
Jede Stimme ist eine Macht – Betrachtungen zur Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten
Vielleicht war das heute schon das politische Ereignis des Jahres 2020, vielleicht des gesamten neuen Jahrzehnts: Die rot-rot-grünen Pläne, den Wahlverlierer Bodo Ramelow wieder zum Ministerpräsidenten von Thüringen zu wählen, sind wie eine Seifenblase zerplatzt. Möglich gemacht hat das eine äußerst ungeschickt agierende CDU und eine um so geschicktere AfD. Kurzum: der neue Ministerpräsident heißt Thomas Kemmerich und kommt von jener Thüringer FDP, die es nach einer Zitterpartie gerademal so in den Landtag geschafft hat. Letzteres gilt nebenbei bemerkt auch für die deutungsbewußten Grünen.
Der konkrete Weg zur Kemmerichs Wahl mag auf dem ersten Blick als »undemokratisches« Produkt politischer Winkelzüge erscheinen. Genau das haben medienpräsente Vertreter der Altparteien in den wenigen Stunden seit der Wahlentscheidung gebetsmühlenartig unter ihrer »Bevölkerung« verbreiten lassen. Es nützt aber nichts. Recht und Gesetz lassen das zu, Art. 70 Abs. 3 der Verfassung des Freistaates Thüringen. In einer echten Demokratie ist am Ende immer der gewählt, der nach den Bestimmungen des geltenden Wahlrechts die Mehrheit auf sich vereinigen kann. Genau das ist hier geschehen.
Leider sieht man das im politischen Berlin und anderswo nicht so. Es wird eine Korrektur der Wahl gefordert, der Rücktritt des Gewählten noch am Tag seiner Wahl und Neuwahlen in Gänze. Realisten werden kaum erwarten, dass solche Maßnahmen am Ende irgendetwas verbessern könnten. Zum einen könnte dem so schon mehrheitlich politikverdrossenen Wähler der Eindruck vermittelt werden, hier soll wieder einmal von oben nach unten durchregiert werden: Wählen, bis das Ergebnis stimmt? Gelenkte Demokratie in die richtige politische Richtung?
Zum anderen ist zu vermuten, dass gerade denen eine Neuwahl des Thüringer Landtags am Ende am teuersten zu stehen kommt, die sie am lautesten fordern. Beispielhaft deshalb ein Tweet von Saskia Esken (SPD) bei Twitter, in dem sie die Korrektur der Wahl fordert und zu diesem Zweck auch die Berliner GroKo in Frage stellt:
Warum eigentlich? Haben nicht die Thüringer Abgeordneten ein freies Mandat und damit weder öffentliche Belehrungen noch Maßregelungen einer umstrittenen SPD-Parteivorsitzenden nötig? Demokratie funktioniert immer von unten nach oben. Jedenfalls ist das bei uns in der AfD so, einer demokratischen Partei und ihren demokratisch gewählten Abgeordneten.
Viele stoßen sich auch daran, dass ein Vertreter einer 5‑Prozent-Partei Ministerpräsident geworden ist. Ist das noch demokratisch? – Wie demokratisch ist es nach diesem Maßstab, dass die AfD nach sensationellen Zugewinnen bei den letzten Landtagswahlen mit 27,5 Prozent in Sachsen, 24,3 in Sachsen-Anhalt, 23,5 in Brandenburg und 23,4 in Thüringen eben nicht in der jeweiligen Landesregierung sitzt, ja nicht einmal als gleichberechtigter Partner in die parlamentarische Arbeit einbezogen wird?
Es ist zudem lächerlich, einem Gewählten zum Vorwurf zu machen, von wem er konkret gewählt wurde. Im Stadtrat und im Stadtbezirksbeirat von Dresden-Plauen habe ich persönlich schon oft Anträgen von Linken, Grünen, SPD, CDU und FDP zugestimmt. Manchmal sogar deren Vertreter in irgendein Gremium gewählt. Nicht in einem einzigen Fall wurden die Anträge (wenn möglich) zurückgezogen oder Wahlen nicht angenommen, nur weil wir von der AfD unsere Stimmen mit für sie abgegeben hatten. In vielen Fällen waren gerade unsere Stimmen entscheidend und ohne uns wäre das Ergebnis ein anderes gewesen. Wie gesagt, niemand hat das bisher problematisiert. Das war bisher überall so. Bisher?
In Thüringen scheint das jetzt plötzlich irgendwie anders zu sein. Ein FDP-Mann, der unmittelbar nach seiner Wahl von der AfD deutlich abgerückt ist, muss sich dafür rechtfertigen, von genau dieser Partei (mit) gewählt worden zu sein. Ein »Dammbruch« sei das gewesen. Ich spekuliere: Hätte die CDU Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten gewählt, hätte bei den Linken kein Hahn danach gekräht. Das wäre dann wohl plötzlich superdemokratisch gewesen, modern, zeitgemäß, fortschrittlich und bla. Dagegen: Mauertote, Stasivergangenheit, vermutliche linksextreme Verstrickungen usw. – kein Thema!
Bliebe dann noch die Sache mit dem Blumenstrauß: Eine Linke warf ihn dem »falsch« gewählten Ministerpräsidenten vor die Füße. Achtung, Heldentat! Vor allem, wenn man Neuwahlen anstrebt. Die Szene wird sich ebenso unauslöschbar in das Gedächtnis der sozialen Netzwerke einbrennen, wie Angela Merkels Wegwerfen der deutschen Flagge. Wir habe alle die Bilder vor Augen.
Wie ist nun der heutige Tag in größere Zusammenhänge einzuordnen? Wird dieser denkwürdige Moment deutscher Demokratie die ersehnte politische Wende auslösen? Wir werden sehen. Ist er es (noch) nicht, wird ein anderer folgen. Wir haben heute auf jeden Fall wieder einen Schritt in die richtige Richtung erleben dürfen.